
Auch, wenn meine Frau es belächelt hat, es war mir wichtig, dass die Zeit, in der ich den letzten angesammelten Urlaub konsumiert habe, nicht als „Pension“ bezeichnet wird. Es war mir wichtig, einen klaren Schnitt zu machen zwischen meinem Arbeitsleben und der Zeit danach. Auch das Abschiedsfest für meine oft langjährigen beruflichen Wegbegleiter sollte zeitlich mit meinem Pensionsantritt zusammenfallen.
Vorbereitet hatte ich alles aber schon länger. Ich hatte das Glück, meine Erfahrung und alles, was mir wichtig war, meinem Nachfolger gut übergeben zu können. Ich hatte mir Zeit genommen, mein Büro auszuräumen, meinen E-Mail-Account gut abzuschließen, mich zu verabschieden. Und immer war mir klar, dass ich das alles so machen „musste“. So war es richtig für mich.
Warum, das ist mir beim Nachdenken darüber, was ich als Neu-Pensionist zum Thema „Altes loslassen – Wandel – Neues empfangen“ sagen könnte, noch deutlicher geworden. Wenn ich überlege, was mich alles geprägt und mir geholfen hat, den Schritt in die Pension gut zu gehen, fallen mir neben den Menschen, mit denen ich unterwegs war, vor allem Bücher ein. Viele Bücher, in denen es auf alle möglichen Arten um Veränderung geht. Und Sätze aus Gedichten oder auch aus der Bibel, die mich mein Leben lang begleitet und mir geholfen haben, mein Suchen und mein ganzes Leben gedanklich zu verorten.
Sätze von Rainer Maria Rilke zum Beispiel. Er spricht in den Duineser Elegien davon, „dass wir, was wir auch tun, in jener Haltung sind von einem, welcher fortgeht.“ Dieses oft schmerzliche Wissen, dass jeder Moment bald Erinnerung sein wird und dass wir „immer Abschied nehmen“, gehört zu mir. Als Arzt und Leiter einer großen Abteilung, die Menschen in ihren existenziellsten Erfahrungen begleitet, auch beim Sterben, lernt man das unweigerlich: Es gilt immer neu Abschied zu nehmen.
Von Vorstellungen, von Entwicklungen, für die man sich eingesetzt hat, von Mitarbeitern, die einem ans Herz gewachsen sind und eben auch von Patienten, die sich einem anvertraut haben. Das fordert heraus: Man will bewahren, was ist, und erlebt, dass es nicht geht. So viel Kostbares muss man zurücklassen, so viele Menschen gehen lassen. Das macht es manchmal sehr verlockend, in Erinnerungen zu leben. Gleichzeitig weiß ich, dass das Leben nur dann ein „Leben in Fülle“ sein kann, wenn dieses Erinnern nicht verhindert, dass man im Jetzt und im Augenblick lebt.
Es sind unter anderem auch biblische Texte, die mir das bewusst machen. Kohelet, mit „Es gibt eine Zeit für alles“ fällt mir dazu ein, oder auch der Name Gottes, der sich Mose im brennenden Dornbusch zeigt „Ich bin der Ich-bin-da“: Jetzt, in diesem Moment, für dein Leben, wie es gerade ist. Oder Lukas 12,25: „Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern?“ Leicht fällt mir das nicht gerade. Und genauso wie mich Erinnerungen dazu verleiten können, in der Vergangenheit zu leben, haben auch Sehnsüchte und Erwartungen und Vorfreude das Potential, mich daran zu hindern, im Hier und Jetzt zu leben.
Aber eigentlich weiß ich: Es ist das Präsentsein in der jeweiligen Situation, das Veränderung und Neuanfang ermöglicht. Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ redet davon: „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe / bereit zum Abschied sein und Neubeginne, / um sich in Tapferkeit und ohne Trauern / in andre, neue Bindungen zu geben. / Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
Wer nicht wach ist und den „Lebensruf“ nicht hört und ernst nimmt – „in Tapferkeit und ohne Trauern“ – wird den Zauber des Anfangs nicht erleben. Ich selbst erahne ihn bis jetzt eher – als Chance, als Möglichkeit. Noch weiß ich nicht genau, was denn in Zukunft meine Aufgabe im Leben sein soll – mit viel angesammeltem Wissen, mit viel Lebenserfahrung und der Bereitschaft, da zu sein, wenn ich gebraucht werde. Aber ich vertraue darauf, dass es sich zeigen wird, in welche neuen Bindungen ich „mich geben“ soll.
Erzwingen kann ich nichts, das habe ich in den vergangenen 65 Jahren gelernt. Geduld, auch mit mir selbst, ist – zusammen mit dem Vertrauen, dass sich Dinge fügen, wenn die Zeit reif ist – wohl die Bedingung dafür, dass wirklich Neues wachsen kann. Auch da hilft mir eine Formulierung von Rilke aus seinen Briefen an einen jungen Dichter: „Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt, und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann; alles ist austragen – und dann Gebären ...“
Ich bin gespannt ...
Dr. Guntram Winder, Primar i. R., vormals Leiter der Abteilung Innere Medizin im Krankenhaus Dornbirn